Mein Personal macht, was es will

Wenn die Sonne hinter den Dächern versinkt, wie Zarah Leander und Udo Lindenberg unnachahmlich singen, erwacht mein Autorengehirn. Nach einem doppelten Espresso setze ich mich an den Rechner, öffne den gerade aktuellen Text und warte auf meine Muse. An manchen Abenden lässt sie sich nicht blicken, aber heute überrumpelt sie mich geradezu mit wilden Küssen; das Personal springt auf und hüpft vor mir her, wirft sich von einem Konflikt in den nächsten; mit heraushängender Zunge folge ich, so schnell es geht. Ab und zu überhole ich die Figuren und verpasse ihnen einen Cliffhanger, um eine Zigarettenpause für mich herauszuschlagen. Doch schon geht’s weiter!

 

Leander (wie kam ich nur auf so einen Namen?) entwickelt sich zu einer wahren Bestie – dabei war sein Charakter völlig anders angelegt. Was treibst du? Du solltest doch der umwerfende Lover sein! Als Heiratschwindler kann ich dich nicht brauchen. Ich versuche einen Schlenker, bei dem er sich richtig verlieben muss. Leider schießt Beate quer – sie denkt gar nicht daran, den Kerl zu verzaubern, gibt sich spröde und feministisch. Wo ist mein Vamp geblieben?

Ich schreie die Zeilen auf dem Monitor an: Hey Leute, falsche Richtung! Das wird kein Krimi, sondern ein Liebesroman! Aus Erziehungsgründen tippe ich zehn Rufzeichen in den Text. 

Um ihnen die Gelegenheit zum Umdenken zu geben, geh ich aufs Klo. Dort grüble ich weiter. Also der Name Leander geht gar nicht, wenn er so ein mieser Charakter ist. Der muss anders heißen. Paul oder Kurt vielleicht. Ich ziehe die Spülung, wasch mir die Hände und suche für einen weiteren Espresso die Küche auf. Mit flatternden Fingern klopfe ich eine Zigarette aus der Packung. Rauche. Ich werde es euch schon zeigen!

Kurzerhand mache ich einen Seitenumbruch und beginne die Szene erneut. Aha, nun entspinnt sich ein Dialog, der in die richtige Richtung treiben könnte. Meine Finger bewegen sich zärtlich über die Tastatur, das wird was!

 

Beate schlug mit einer lasziven Geste die Beine übereinander. Leander errötete, als er das Strumpfband blitzen sah und senkte sogleich den Blick.

„Warum bist du so zurückhaltend?“, fragte Beate mit samtiger Stimme.

Leander stöhnte verhalten auf. „Es vergeht keine Stunde, in der ... in der ich nicht an dich denke“, er schlug die Hände vor das Gesicht, flüsterte dumpf: „kein Stein blieb auf dem anderen, seit ich dir begegnete.“ Verlegen verstummte er.

 

Ich habe einen Run, der Dialog zieht sich über vier Normseiten. Wie geplant stürzt nun der andere Liebhaber herein (Beate ist jetzt die Femme Fatale, die sie sein soll) und rauft sich verzweifelt die Haare. Cut.

Beglückt lehne ich mich zurück und lese die Szene. Nach der ersten Seite gähne ich. Das ist ja todlangweilig. Hundertfach gelesen. Und leider auch viel besser. Deprimiert greife ich zum Eierlikör. Werfe zwischen zwei Schlucken giftige Blicke auf Protag und Antag. Dem deplatzierten Rivalen mache ich mit der Löschtaste sofort den Garaus. Sich die Haare raufen ist echt zu wenig, mein Bester! 

Ich scrolle aufwärts zur Heiratsschwindlersequenz. Hoppla! Ist das gut geworden! Ich habe zwar die Perspektiven komplett verpeilt, aber bitte, ist ja First Draft, das lässt sich richten. Beflügelt kippe ich noch ein Glas und sage: „Junge, du heißt jetzt Paul, klar?“ Leander ist Geschichte. Beate steckt nun in blickdichten Strumpfhosen; die Strapse habe ich ihr weggenommen; ich entfärbe ihre tizianrote Haarmähne, darunter kommt Mausblond zum Vorschein, das ich zum Pagenkopf abschnipple. Sie stampft auf. Ich grinse. Nun ja, meine Liebe, so ist das Leben.

 

Blöd ist nur, dass der Typ mit der kriminellen Energie ums Verrecken nicht Paul heißen möchte. Wie der Pawlowsche Hund schreibe ich ständig Leander. Nun gut, ich erfülle ihm seinen Wunsch, will ja nicht so sein.

Ich sehe schon, ich muss meinen Figuren vertrauen. Die wissen, was zu tun ist. Und ich lösche den öden Dialog, den ich ihnen aufzwingen wollte. Wird es eben ein Krimi. Warum nicht?

 

Geradezu befreit, keinen Liebesroman schreiben zu müssen, zu dem mir eh nichts einfällt, strecke ich mich und grunze herzhaft. Es ist zwei Uhr früh und ich beschließe, ins Bett zu gehen.

Ehe ich den Rechner runterfahre, lese ich stillvergnügt schnell die letzten zwei Absätze, die ich wie im Flug getippt hatte. Der Schweiß bricht mir aus: Das habe doch nicht ich geschrieben? Never ever! Meine Zehennägel kringeln sich, denn ich lese, dass Leander die arme Haut Beate nicht rumkriegen will, sondern ihr dieselbe vom dürren Körper reißt! Er ist zum psychopathischen Serienmörder geworden! Als es in meinem Rücken raschelt, fahre ich panisch herum.

„Durst“, sagt mein Mann verschlafen und schlägt den Weg zur Küche ein. 

„Halt“, rufe ich. Meine Stimme klingt hysterisch.

„Was denn?“

„Ich habe Angst, schreckliche Angst vor meinem Personal.“

Er sieht mich müde an. „Warum seid ihr Schreiberlinge bloß so ... exaltiert? Meine Liebe, wir haben keine Dienstboten. Komm endlich ins Bett.“

Ich lasse mich noch schnell von ihm aufs Klo begleiten (der Flur bei uns ist verdammt dunkel), dann liege ich neben ihm. Sein zartes Schnarchen schläfert mich heute nicht ein. Was, wenn Leander, während ich schlafe, so weitermacht? Ich krieche in die Achselhöhle meines Mannes. Leander streift derweil mit Schaum vor dem Mund durch die Stadt auf der Suche nach mausblonden Komplexlerinnen. Schrill klingt sein Lachen durch die Nacht.

©Elsa Rieger